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ihnen, im Lager des Agramante, unter dem Herrenvolk; aber es gab nur wenig Männer, viele von
ihnen waren Krüppel, viele trugen Fetzen am Leibe wie wir. Mir war, als müsse jeder uns Fragen
stellen, uns an den Gesichtern ablesen, wer wir waren, demütig unseren Bericht anhören. Aber
niemand sah uns in die Augen, niemand nahm die Herausforderung an: sie waren taub, blind und
stumm, eingeschlossen in ihre Ruinen wie in eine Festung gewollter Unwissenheit, noch immer
stark, noch immer fähig zu hassen und zu verachten, noch immer Gefangene der alten Fesseln von
Überheblichkeit und Schuld.
Ich überraschte mich dabei, wie ich unter der anonymen Menge versiegelter Gesichter andere,
wohlbekannte, oft mit Namen versehene Gesichter suchte: solche, die unmöglich nicht wissen, sich
nicht erinnern, nicht Rede und Antwort stehen konnten, solche, die befohlen und gehorcht, getötet,
erniedrigt und korrumpiert hatten - törichter und nutzloser Versuch: denn nicht sie, sondern die
wenigen Gerechten hätten an ihrer Statt geantwortet.
Wenn wir in Szób einen Gast mitgenommen hatten, so stellten wir nach München fest, daß wir von
dort ein ganzes Nest hinzugeladen hatten: unser Transport zählte nicht mehr sechzig, sondern
einundsechzig Waggons. Am Schluß des Zuges reiste ein zusätzlicher Wagen mit uns in Richtung
Italien, vollgepfropft mit jungen Juden, Jungen und Mädchen, die aus allen Ländern Osteuropas
stammten.
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Keiner von ihnen war älter als zwanzig, aber alle wirkten sie sehr sicher und entschlossen: es waren
junge Zionisten, die nach Israel wollten, jede Gelegenheit nutzten und sich durchschlugen, wie sie
konnten. In Bari erwartete sie ein Schiff; den Waggon hatten sie gekauft; ihn an unseren Zug zu
hängen, war die einfachste Sache der Welt gewesen, sie hatten niemanden um Erlaubnis gefragt, sie
hatten ihn einfach angehängt - und damit basta. Ich wunderte mich, aber sie lachten nur über mein
erstauntes Gesicht: »Ist Hitler vielleicht nicht tot?« entgegnete mir einer mit Falkenblick, ihr
Anführer. Sie fühlten sich grenzenlos frei und stark, als Herren der Welt und ihres Schicksals.
Über Garmisch-Partenkirchen kamen wir am Abend in das Sammellager von Mittenwald. Es lag
inmitten von Bergen an der österreichischen Grenze und war im Zustand märchenhafter
Unordnung. Wir übernachteten dort, es sollte unsere letzte eiskalte Nacht sein. Am Tag darauf
fuhren wir über Innsbruck nach Süden, wo sich der Zug mit italienischen Schmugglern füllte, die
uns in Abwesenheit der Behörden den Willkommensgruß des Vaterlandes überbrachten und
großzügig Schokolade, Schnaps und Tabak verteilten.
Als die Lokomotive die Steige zur italienischen Grenze hinaufkroch, brach plötzlich, wie ein
überspanntes Seil, der Zug auseinander, noch erschöpfter als wir: es gab einige Verletzte - und wir
hatten unser letztes Abenteuer bestanden. Es war schon Nacht, als wir über den Brenner fuhren, den
wir zuletzt vor zwanzig Monaten auf dem Weg ins Exil überquert hatten: die nicht so hart geprüften
Kameraden brachen in fröhliche Begeisterung aus, Leonardo und ich verfielen in ein
erinnerungsträchtiges Schweigen. Von den sechshundertfünfzig, die mit uns gewesen waren,
kehrten drei zurück.
Und wieviel hatten wir in diesen zwanzig Monaten verloren? Was würden wir zu Hause vorfinden?
Wieviel von uns selbst war verzehrt, ausgelöscht? Kehrten wir reicher oder ärmer zurück? Stärker
oder schwächer? Wir wußten es nicht; wohl aber wußten wir, daß uns auf der Schwelle unserer
Häuser eine neue Prüfung - im Guten oder im Bösen - erwartete, und wir sahen ihr mit Bangen
entgegen.
In unseren Adern kreiste zusammen mit unserem erschöpften Blut das Gift von Auschwitz; wo
sollten wir die Kraft hernehmen, unser Leben wieder zu beginnen, die Barrieren einzureißen, die
Hecken, die während jeder Abwesenheit von selbst um das verlassene Haus, um die leere Hütte
hoch wuchern? Bald, morgen schon, mußten wir den Kampf mit noch unbekannten Feinden
aufnehmen, in uns und außerhalb von uns; mit welchen Waffen, welcher Energie, mit welchem
Willen? Wir fühlten uns uralt, zu Boden gedrückt von einem Jahr der schrecklichsten Erinnerungen,
ausgelaugt, wehrlos.
Die eben verlebten Monate am Rande der Zivilisation schienen uns jetzt, obgleich hart, eine
Atempause gewesen zu sein, eine Zeitspanne zu unserer eigenen grenzenlosen Verfügbarkeit, ein
gnädiges, aber unwiederholbares Geschenk des Schicksals.
Mit solchen Gedanken, die uns den Schlaf raubten, verbrachten wir die erste Nacht in Italien,
während der Zug langsam das verlassene dunkle Etschtal hinunterfuhr. Am 17. Oktober trafen wir
im Lager Pescantina bei Verona ein; hier trennten wir uns, und jeder ging seinem Schicksal
entgegen; aber erst am Abend des nächsten Tages gab es einen Zug in Richtung Turin. In dem
Gewoge der Tausende von Flüchtlingen und Heimkehrern entdeckten wir Pista, der bereits seinen
Weg gefunden hatte: er trug die weißgelbe Armbinde des päpstlichen Hilfswerks und arbeitete
eifrig und vergnügt im Dienst des Lagers. Und da, die Menge um Haupteslänge überragend, sahen
wir eine Gestalt, ein bekanntes Gesicht auf uns zukommen, den Mohr von Verona. Er kam, um sich
von Leonardo und mir zu verabschieden; er war hier schon zu Hause, der erste von uns; denn
Avesa, sein Heimatort, lag nur wenige Kilometer entfernt.
Und er segnete uns, der alte Lästerer: er hob zwei riesige knotige Finger und segnete uns mit der
feierlichen Geste der Päpste, wünschte uns eine glückliche Heimkehr und alles Gute. Wir nahmen
den Wunsch dankbar entgegen, wir spürten, daß wir ihn nötig haben würden.
Am 19. Oktober, nach fünfunddreißig Tagen Reise, traf ich in Turin ein: das Haus stand noch, alle
Familienangehörigen waren am Leben, niemand hatte mich erwartet. Ich war aufgedunsen, bärtig
und zerlumpt, und sie erkannten mich nur mit Mühe. Ich fand die Freunde voller Leben, die Wärme
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der sicheren Mahlzeiten, die konkrete alltägliche Arbeit, die befreiende Freude des Berichtens; ich [ Pobierz caÅ‚ość w formacie PDF ]

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